Europäischer
Verfassungsentwurf
Einleitung: drei gute Gründe für eine europäische
Verfassung
Seit mehr als einem halben Jahrhundert leben die Länder der Europäischen
Union in Frieden. Sie haben dieselben Ziele: Demokratie, Stabilität,
Wachstum und Frieden. Das Zusammenwachsen dieser weltweit einmaligen
politischen Union erfolgte Schritt für Schritt - genauso wurden
die Vertragswerke der Union nach und nach erweitert. Derzeit halten
mehr als 800 einzelne Vertragsartikel die Europäische Union zusammen
- was eine gewisse Unübersichtlichkeit zur Folge hat. Einer der
Gründe für eine erste Verfassung der Europäischen Union
ist daher, mehr Transparenz zu schaffen. Aber es gibt noch einen weiteren
triftigen Grund: Die Europäische Union steht mit der Erweiterung
um weitere 10 mittel- und osteuropäische Staaten vor einer ihrer
größten Herausforderungen. Mit der Erweiterung soll eine
Vertiefung der Integration einher gehen. Das Europa der traditionellen
Verträge ist dieser Aufgabe aber nicht mehr gewachsen. Es ist
also erforderlich, dieses historische Ereignis auf ein solides Fundament
zu stellen. Ein weiteres Argument für eine Verfassung ist schließlich,
dass es einen rechtlichen Rahmen geben muss, damit Europa seiner Verantwortung
in der Weltpolitik gerecht werden kann. Die Terroranschläge vom
11. September 2001 haben gezeigt, dass die EU insbesondere in Krisenzeiten
schnell, effizient und vor allem geschlossener agieren und reagieren
können muss. Für diese Ziele haben sich die SozialdemokratInnen
im Europäischen Parlament stark gemacht und den Plenardebatten
und den Arbeitsgruppen des Konvents wichtige Impulse gegeben.
Es ist keine leichte Aufgabe, die Interessen aller Beteiligten unter
einen Hut zu bekommen - das hat spätestens das Scheitern des Regierungsgipfels
in Brüssel im Dezember 2003 gezeigt, womit der ursprüngliche
Plan, die Verfassung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament
im Juni 2004 in den einzelnen Mitgliedstaaten zu ratifizieren, ins Stocken
geraten ist. Aber das bedeutet nicht, dass keine Lösung gefunden
werden kann. Die SozialdemokratInnen haben sich bisher und werden sich
auch in Zukunft vehement für den vom EU-Konvent ausgearbeiteten
Entwurf einer europäischen Verfassung einsetzen. Er bringt die
notwendige Transparenz und Effizienz europäischer Entscheidungen
und sichert die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union.
Europa braucht eine Verfassung!
Fragen und Antworten
Die Vertragsgrundlagen der Europäischen Union sind sowieso
schon so unübersichtlich. Warum braucht Europa nach Maastricht,
Amsterdam und Nizza (noch) eine Verfassung?
Gerade wegen der mangelnden Transparenz ist eine Verfassung erforderlich.
Die EU hat sich immer mehr von den BürgerInnen entfernt - 63% der
deutschen Wahlberechtigten geben an, dass die EU für sie undurchschaubar
ist! Das kann angesichts der Bedeutung, die die europäische Politik
auf die BürgerInnen hat, nicht so bleiben. Deshalb haben sich die
SozialdemokratInnen bei den Arbeiten am Verfassungsentwurf dafür
eingesetzt, dass die europäischen Entscheidungsprozesse transparenter,
demokratischer und effizienter werden. Die Europäische Union muss
einfacher und verständlicher werden. Die vielen europäischen
Regelwerke müssen durch eine Verfassung ersetzt werden, damit die
BürgerInnen besser erkennen können, wer, wann, was und mit
welcher Berechtigung in der Union entscheidet.
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Was ist der Konvent und wie kam es zu seiner Einsetzung?
Normalerweise wird immer eine Regierungskonferenz einberufen, wenn das
europäische Vertragswerk grundlegend geändert werden soll.
Die letzte Regierungskonferenz endete 2000 mit dem Europäischen
Rat in Nizza, wo sich die Staats- und Regierungschefs trotz intensiver
Versuche nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen konnten.
Allen war damals klar, dass dies keine stabile Basis für die Erweiterung
sein könnte - die Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union war damit nicht gesichert - es herrschten Zweifel, ob die Union
politisch führbar bliebe. Es sollte also eine neue Verfassung
für Europa her. Um sich nicht in jahrelangen Diskussionen festzubeißen,
riefen die Staats- und Regierungschefs den Europäischen Konvent
ins Leben. Seine Aufgabe war es, einen Verfassungsentwurf zu erarbeiten.
Gleichzeitig konnte so dem immer wieder aufkommenden Vorwurf, die Verhandlungen
fänden "hinter verschlossenen Türen" statt, entgegen
gewirkt werden.
Dem Konvent gehörten je drei Vertreter pro Mitgliedstaat (einen
Vertreter stellte die Regierung, zwei Vertreter entsandten die nationalen
Parlamente), 16 Mitglieder des Europäischen Parlaments und zwei
Mitglieder der Europäischen Kommission an. Auch die Vertreter der
Beitrittskandidaten nahmen - allerdings ohne Stimmrecht - an den Verhandlungen
teil. Geleitet wurde der Konvent von dem früheren Staatspräsidenten
Valéry Giscard d´Estaing. Der Konvent begann seine Arbeit
am 28. Februar 2002 und legte den Staats- und Regierungschefs den fertigen
Entwurf am 20. Juli 2003 vor.
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Was sind die wesentlichen Punkte des Verfassungsentwurfs?
- Mehr Übersichtlichkeit durch Zusammenführung der vertraglichen
Grundlagen der Union in einem Dokument
- Rechtlich verbindlicher Grundrechtekatalog
- 15 Kommissare mit Stimmrecht
- Hauptamtlicher Europäischer Außenminister
- Einführung des Prinzips der doppelten Mehrheit im Ministerrat
- Das Europaparlament erhält mehr Kompetenzen
- Hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates
- Statt Vetorecht mehr Politikbereiche, in denen mit Mehrheit entscheiden
wird
- Klarere Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten
- Wahl des EU-Kommissionspräsidenten durch das Europaparlament
und damit Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Besetzung
über die Europawahl
- Einführung des Europäischen Bürgerbegehrens
Welche Rolle kommt dem Europäischen Parlament nach dem Verfassungsentwurf
zu?
Das Europäische Parlament wird gestärkt. Es wird gleichwertiger
Gesetzgeber neben dem Ministerrat (bisher war das noch nicht in allen
Fällen so). Folglich bestimmen die BürgerInnen bei der Europawahl
künftig die Gesetzgebungsmehrheit im Europäischen Parlament.
Außerdem wählt das Europäische Parlament auf Vorschlag
des Ministerrates den Präsidenten der EU-Kommission, der die Leitlinien
der Kommissionspolitik bestimmt. Das Ergebnis der Europawahl entscheidet
also auch über die Besetzung der wichtigsten Führungspositionen
in Brüssel!
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Welche Punkte des Verfassungsentwurfes sind umstritten?
Es gibt zwischen den Mitgliedsstaaten bzw. den Beitrittsstaaten zahlreiche
mehr oder minder umstrittene Punkte. Folgende Punkte, die auch zum Scheitern
der Regierungskonferenz im Dezember 2003 führten, sind hervorzuheben:
Das Hauptproblem ist das sog. "Prinzip der doppelten Mehrheit".
Danach soll die notwendige Stimmenmehrheit für Entscheidungen dann
gegeben sein, wenn mindestens 50 Prozent der Mitgliedstaaten und 60
Prozent der Bevölkerung repräsentiert sind. Hiergegen wehren
sich Spanien und Polen vehement. Sie wollen, dass die Stimmverteilung
entsprechend dem Vertrag von Nizza erfolgt. Danach haben Polen und Spanien
jeweils fast so viele Stimmen wie Deutschland, obwohl ihre Einwohnerzahl
nur halb so groß ist. Ein weiteres Problem ist die Größe
der Kommission. Nach dem Verfassungsentwurf soll die Kommission künftig
aus 15 Kommissaren bestehen (derzeit gibt es 19), um Effektivität
und Transparenz gewährleisten zu können. Die kleineren Mitgliedstaaten
wollen hingegen einen EU-Kommissar für jedes Land, damit jedes
Land ähnlich repräsentiert ist. Schließlich besteht
Streit bezüglich der Frage, ob ein expliziter Gottesbezug in die
Präambel der Verfassung aufgenommen werden soll oder nicht. Insbesondere
Frankreich steht dem ablehnend gegenüber, während Polen darauf
besteht.
Wie geht es weiter?
Die irische Ratspräsidentschaft soll im Laufe des Frühjahrs
2004 Vorschläge für das weitere Vorgehen machen. Für
die Entscheidungsfindung im Ministerrat gilt bis auf weiteres die Regelung
des Vertrages von Nizza.
Die SozialdemokratInnen sind der Meinung, dass Europa eine Verfassung
braucht. Dafür haben sich sowohl die SozialdemokratInnen im Europäischen
Parlament als auch die Bundesregierung stark gemacht. Ohne die im Konventsentwurf
vorgeschlagenen notwendigen Reformen der europäischen Institutionen
droht der EU eine Lähmung zu Lasten der BürgerInnen. Die europäische
Erfolgsgeschichte darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Hierfür
werden sich die SozialdemokratInnen auch weiterhin einsetzen.
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Was sind die Schwerpunkte der SozialdemokratInnen?
Den SozialdemokratInnen kommt es insbesondere auf die Verwirklichung
des Europäischen Gesellschaftsmodells an: ein Europa der nachhaltigen
Entwicklung, der Vollbeschäftigung, der Innovation und des sozialen
Zusammenhalts. Wir sehen Europa als Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts. Die Union muss bürgernäher, transparenter,
effizienter und demokratischer werden. Hierzu gehört, dass die
Charta der Grundrechte in die Verfassung integriert wird, um der Würde
des Menschen und seinen staatsbürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen
und politischen Rechten Ausdruck zu verleihen. Schließlich soll
nach dem Willen der SozialdemokratInnen Europas Stimme entsprechend
seiner Bedeutung im weltpolitischen Gefüge Geltung verschafft werden.
Welche Vorteile werde ich konkret haben?
Es gibt viele Vorteile:
Zunächst wird die Charta der Grundrechte Bestandteil der Europäischen
Verfassung. Sie wird damit verbindliches und einklagbares europäisches
Recht - für jede und jeden Europäer. Weiterhin soll es ein
europaweites Bürgerbegehren geben - eine Millionen BürgerInnen
können mit einem solchen Begehren die Europäische Kommission
auffordern aktiv zu werden und Vorschläge zur Lösung eines
Problems zu machen. Europa wird damit konkret, weil die BürgerInnen
selbst die Initiative ergreifen können. Außerdem wird Europa
transparenter. Denn mit der Vereinfachung lässt sich besser nachvollziehen,
wie Europa funktioniert. Gleichzeitig fällt die Identifikation
mit Europa leichter. Die Bezeichnung "die da in Europa" wird
zum "wir in Europa" werden. Ein weiteres Beispiel ist, dass
die Wählerstimme bei der Europawahl an Gewicht gewinnt. Denn die
gewählten Abgeordneten des Europäischen Parlaments sind nach
dem Verfassungsentwurf neben dem Ministerrat gleichberechtigter Gesetzgeber,
was bisher nicht nur überwiegend, aber nicht in allen Bereichen
die Regel war. Außerdem wählen die von den WählerInnen
gewählten Abgeordneten den Präsident der Kommission (auf Vorschlag
des Rates), der die Richtlinien der Kommissionspolitik bestimmen wird.
Schließlich bekommt die EU eine eigene Rechtspersönlichkeit
und kann künftig geschlossener nach außen auftreten. Bei
den Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik
wird das Einstimmigkeitsprinzip gelten. Diese Regelungen tragen zum
weltpolitischen Gleichgewicht bei, was allen BürgerInnen Europas
zugute kommt.
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